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MODERNE PFLEGE IM WANDEL DER ZEIT

08.12.2022

Interview mit Gisela Müller (Pflegedienstleitung) und Birgit Trierweiler-Haucke (Stellv. Pflegedienstleitung) - Das Wort „Fachkraft" ist in aller Munde. Was versteht man unter einer modernen Pflege im 21. Jahrhundert? Wo liegen deren Stärken, wo ihre Schwächen?

Was müsste verändert werden, um sich in einer immer älter werdenden Gesellschaft für die Zukunft zu wappnen? Und wie könnte ein Anreiz geschaffen werden, damit sich junge Menschen für diesen verantwortungsvollen Beruf entscheiden, ohne Angst haben zu müssen, durch völlige Überbelastung nach ein paar Jahren den Beruf aufgeben zu müssen?

Im Folgenden werden uns Frau Gisela Müller, Pflegedienstleitung der Chirurgischen Klinik und Klinik für Anästhesiologie und Frau Birgit Trierweiler-Hauke in ihrer Funktion als Stellvertretende Pflegedienstleitung einige Informationen zu diesen und anderen Fragen geben:
Fachkräftemangel– wie würden Sie den aktuellen Zustand, den dieses vielzitierte Wort beschreibt – erläutern?

GISELA MÜLLER: Wir sind zugegebenermaßen wieder einmal an einem Punkt angelangt, an dem wir täglich den bestehenden Fachkräftemangel erklären und uns leider nicht vornehmlich mit der Weiterentwicklung unseres Personals auseinandersetzen können. Und nun besteht die Gefahr, dass wir uns in eine Spirale der Rechtfertigung und Entmutigung begeben. Vielmehr müssten wir unseren Mitarbeitern, die Tag ein Tag aus ihr Bestes zum Wohle unserer Patienten geben, jeden Tag sagen, dass ohne ihr großartiges Engagement unser Gesundheitssystem und damit auch einer der ganz elementaren Werte unserer Gesellschaft zerbrechen würde.


Der Mangel an Fachkräften in der Pflege ist groß. Wäre es nicht trotzdem wichtig, höhere Einstiegsanforderungen an dieses Berufsfeld zu stellen, damit die Bewerber der Komplexität, die dieser anspruchsvolle Beruf mit sich bringt, auch gewachsen sind?

BIRGIT TRIERWEILER-HAUKE: Vollkommen richtig. Die Einstiegsanforderungen waren und sind zwar bereits hoch, werden aber in Zukunft, um uns im europäischen Kontext noch klarer positionieren zu können, noch weiter ansteigen müssen. Risiko oder Chance? Aus unserer Sicht ist dies eher eine große Chance, um allen Protagonisten im Gesundheitswesen die zentrale Rolle der Pflegefachpersonen noch einmal aufzuzeigen und die notwendigen Entwicklungsschritte nicht zu blockieren. Oder sagen wir es einfach. Viel Wissen schafft viel Tun, viel Tun schafft viel Mitsprache, ein mehr an Mitsprache ermöglicht ein mehr an Verantwortung und viele Entscheidungsoptionen schaffen Zufriedenheit.


Die Anzahl der Pflegenden mit Migrationshintergrund steigt. Welche Chancen aber auch Risiken sehen Sie darin?

GISELA MÜLLER: Von Jahr zu Jahr beschäftigen wir immer mehr Pflegende mit Migrationshintergrund. Als Chance sehen wir, dass wir in multikulturellen Teams unsere Patienten, deren Migrationsanteil ebenfalls ansteigt, noch besser verstehen und begleiten können. Selbstverständlich sind, um Risiken auszuschließen, viel mehr teambildende Maßnahmen und Vereinbarun- gen gemeinsamer „Pflege-SOPs“ (Pflege-Standards) erforderlich, da die Pflegearbeit in vielen außereuropäischen Ländern von Familienangehörigen übernommen wird. Unsere Aktivitäten im Sinne eines Diversity Managements sind sehr gut etabliert und werden ständig optimiert. In diesem Zusammenhang möchten wir ausdrücklich auf unser seit Jahren etabliertes Triple Win Projekt, ein Projekt, mit dem wir Pflegefachpersonen aus anderen Ländern gewinnen, hinweisen. Im Rahmen dieses Projekts wurden mittlerweile schon über 200 Pflegefachpersonen aus Serbien und Bosnien-Herzegowina und seit diesem Jahr auch aus Tunesien erfolgreich ausbildet, begleitet und integriert.
 

Gibt es Diskrepanzen zwischen dem in der Ausbildung erlernten Fachwissen und der tatsächlichen Klinikrealität?

BIRGIT TRIERWEILER-HAUKE: Wenn wir diese Frage mit Blick auf die Gesamtpflege in Deutschland beantworten sollen, dann müssen wir sagen: Ja. In den 90iger Jahren haben Pflegefachpersonen viele Aufgaben, die immer selbstverständlich zum Portfolio einer Pflegefachperson zählten, abgegeben. Nicht, weil sie kein Interesse oder keine Lust mehr an den Aufgaben wie z.B. der Blutentnahme oder an Wundverbänden hatten, sondern weil im Kontext auch des damals extremen Fachkräftemangels dies eine Option schien, die Pflegeaufgaben überhaupt noch erfüllen zu können. Heute können wir ganz klar sagen, dass dies eine Fehlentscheidung war und die deutsche Pflege geschwächt und nicht gestärkt hat. Unser Selbstverständnis in der Chirurgischen Universitätsklinik ist schon immer anders. Wir übernehmen selbstverständlich alle Aufgaben, die wir in der Ausbildung erlernt haben und erweitern sogar noch unsere Themenfelder, indem wir „alte“ Aufgaben wieder zurück- nehmen und uns über Zusatzqualifikationen weiterbilden. Unsere Philosophie – Diversität in der Aufgabe ist ein Beitrag zur Reduktion von Belastung und ermöglicht Mitsprache und Mitentscheidung.
 

Welchen Stellenwert können die Themen „Zuhören“, „Da sein“ und sich für die Bedürfnisse eines einzelnen Patienten „Zeit nehmen“ im Klinikalltag des 21. Jahrhunderts noch haben?

GISELA MÜLLER: Zuhören, da sein und sich für Menschen Zeit nehmen – das sind doch die wirklich wichtigen Geschenke, die wir anderen Menschen entgegenbringen dürfen. Für unsere Patienten sind dies die wichtigsten Anker, die sie in schweren Zeiten einer Erkrankung stabilisieren und ihnen helfen, ihrer Erkrankung zuversichtlich zu begegnen. Noch zeitgemäß im Zeitalter von Robotik und Digitalisierung? Unbedingt. Menschliche Zuwendung und Berührung erdet, stabilisiert, tröstet und ermutigt uns. Zuwendung und Berührung sind das Bindemittel in unserem Leben.
 

Von Seiten der Lehre wird dringend gefordert, Theorie und Praxis in der Pflegeausbildung besser zu verzahnen. Können Sie dies aus Ihren Erfahrungen im Klinikalltag heraus bestätigen?

BIRGIT TRIERWEILER-HAUKE: Genauso ist es. Aus diesem Grund haben wir vor fünf Jahren die 1. Interprofessionelle Ausbildungsstation HIPSTA in Deutschland gegründet. Die HIPSTA ist eine Station in einer Station, in der acht Patienten von Medizinstudenten im Praktischen Jahr, von Auszubildenden der Pflege und Physiotherapie im 3. Ausbildungsjahr eigenverantwortlich be- treut und versorgt werden. Ziel des Einsatzes ist, dass alle Berufsgruppen auf Augenhöhe miteinander kommunizieren, gemeinsame Entscheidungen treffen und auf die Bedarfe der Patienten aus den unterschiedlichen Sichtweisen ihrer Berufe eingehen. Selbstverständlich werden die Lernenden von Lernbegleitern der Berufsgruppen permanent betreut und unterstützt. Die Betreuung und Unterstützung geschieht jedoch so professionell, dass die Lernenden wirklich reale Entscheidungs- und Behandlungsprozesse einüben können. Dieses Konzept wurde mittlerweile schon an vielen Universitätskliniken übernommen. Die Auszubildenden und Studenten sind begeistert und bewerben sich explizit für einen Einsatz auf der HIPSTA. Unsere „HIPSTA-Patienten“ erleben eine hochwertige medizinische, pflegerische und physiotherapeutische Versorgung und fühlen sich sehr sicher.
 

Professionelle Pflege kann nicht von jedem geleistet werden. Zudem würden bessere Einkommensverhältnisse die Attraktivität des so wichtigen Pflegeberufs erhöhen, so dass man im Bewerbungsverfahren bereits aus einer größeren Anzahl von Bewerbern auswählen könnte. Würden Sie dem zustimmen?

GISELA MÜLLER: Unbedingt. Wir benötigen im Pflegeberuf nicht nur die Besten und von diesen viele, sondern wir müssen die Menschen auch sehr gut bezahlen. Dass der Pflegeberuf zu den schönsten Berufen zählt und dieser Beruf den Menschen viel abverlangt ist klar. Und das muss honoriert werden. Wir arbeiten nicht von 08:00 – 16:00 Uhr. Wir sind immer da. 24/7. Wir kennen unsere Patienten aus medizinischer und pflegerischer Sicht und setzen uns mit ihren Schicksalen und ihrem Leben auseinander. Wir lassen nicht alles stehen und liegen, wenn unsere Patienten noch unsere Hilfe benötigen. Wir bleiben. Wir wechseln unsere Dienste von der einen zur anderen Schicht oder wir absolvieren extra Schichten, wenn Kollegen krank geworden sind. Diese besonderen Dienstzeiten mit einem Privat- und Familienleben zu vereinen, ist eine immense Herausforderung. Der Pflegeberuf mit all seinen Facetten ist Kunst. Kunst sollte und muss sehr gut bezahlt werden.
 

Welche Bedeutung messen Sie der Akademisierung der Pflege zu?

BIRGIT TRIERWEILER-HAUKE: Wir messen der Akademisierung eine sehr hohe Bedeutung zu. Das Universitätsklinikum möchte ein Magnetkrankenhaus werden. Was ist das? Vor 40 Jahren gab es in den USA einen vergleichbaren Pflegefachpersonalmangel. Aber, es gab Kliniken, die spürten davon weniger, da die Pflegenden von diesen wie ein Magnet angezogen wurden. Im Rahmen einer Studie wurden 14 Faktoren, die diesen Magnetismus bewirkten, beschrieben. Ein Faktor ist die Anhebung der akademisierten Pflegenden, die in der direkten Patientenversorgung arbeiten. Sie leiten Forschungs- fragen aus dem Pflegealltag aus, initiieren Projekte, sind Lehrende und verbessern gemeinsam mit allen Pflegenden die pflegerische Versorgung.
 

Der Großteil der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland wird zu Hause betreut. Während nur ein Teil dieser Menschen einen ambulanten Pflegedienst nutzt, wird der andere Teil von ihren Angehörigen gepflegt, die oft jedoch schnell an ihre Grenzen stoßen. In diesen Fällen suchen sich immer mehr Familien Pflegehilfspersonen aus dem Ausland, die gemeinsam mit dem pflegebedürftigen Angehörigen wohnen und diesen gewissermaßen „rund um die Uhr“ betreuen. Wo sehen Sie die Chancen, wo aber auch die Risiken dieses Modells?

GISELA MÜLLER: Menschen, die ihre pflegebedürftigen Angehörigen versorgen und pflegen, benötigen selbstverständlich Unterstützung. Eine 24 Stunden Betreuung ist oft die einzige Chance, den Alltag weiterhin im eigenen Heim erleben zu dürfen. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht die Augen vor der Lebensrealität der Pflegehilfspersonen verschließen, die ihre eigenen Familien verlassen und diese nur selten sehen können. Aktuell sind Arbeitszeiten und Entlohnung Gegenstand mehrerer gerichtlicher Verfahren.
 

Die Zahl der Pflegebedürftigen wird bis zum Jahr 2050 geschätzt auf ca. 5,2 Millionen Menschen steigen und das obwohl es immer weniger junge Menschen gibt, die die Pflege übernehmen können. Das Thema Pflege wird daher immer wieder als eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen bezeichnet. Würden Sie dem zustimmen und was wäre Ihr Lösungsansatz?

BIRGIT TRIERWEILER-HAUKE: Wir haben viele Lösungsansätze. Mein Schwerpunkt ist das Thema Bewegung. Wir akzeptieren, dass sich Menschen immer weniger bewegen und die Bewegungsabläufe immer zweidimensionaler werden. Wer von unseren alten Menschen ist noch in der Lage, sich auf den Boden zu setzen oder auch wieder vom Boden aufzustehen. Es ist ein schleichender Bewegungsverlust wie die Pflegewissenschaftlerin Zegelin einmal sagte. Diese Erkenntnis ist mittlerweile in vielen Pflegepräventivkonzepten etabliert. Es gibt Modellprojekte, in denen ältere Menschen gezielt in Alltagsbewegungen trainiert werden und ihr Bewegungsrepertoire wieder erweitern. Leider ist ein Mehr an Komfort und Bequemlichkeit eine große Gefahr. Wenn wir im Alter nicht mehr so sicher sind, die Treppen zu laufen, dann werden aber auch gerade robotische und digitale Möglichkeiten helfen, damit Menschen sehr viel länger im eigenen Umfeld le- ben können. Aber auch dann gelten die Maxime – sich nicht ausruhen, sondern tun. Weitere Lösungsansätze sind Wissen, eigenständiges Handeln der Pflegefachpersonen, Digitalisierungsoffensiven, berufsübergreifende Vernetzung und inter- professionelle Zusammenarbeit, menschenfreundliche Pflegehilfsmittel und, und, und …
 

Eine gute Pflege orientiert sich an den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen. Hohe Fachkompetenz der Pflegenden spielt dabei eine entscheidende Rolle. Problematisch ist jedoch, dass Pflegende aufgrund von Überbelastung immer weniger Zeit für den einzelnen Patienten haben. Ist eine gute und ganzheitliche Pflege Ihrer Meinung aktuell überhaupt möglich?

GISELA MÜLLER: Ja. Und es ist dringend notwendig, dass ausreichend und gut ausgebildete Pflegefachpersonen diese Aufgabe übernehmen. Gelingt dies nicht, dann werden nach Ausbildung oder Studium hoch motivierte Pflegende weiterhin den Beruf nach kurzer Zeit verlassen, da sie angetreten sind, gute und menschenwürdige Pflege zu praktizieren.
 

Eine gute Zusammenarbeit mit den ärztlichen Kollegen ist von großer Bedeutung für die Pflegefachpersonen. Was ist Ihrer Meinung Grundlage für ein gutes Miteinander?

BIRGIT TRIERWEILER-HAUKE: Das Kennen der Aufgaben und des Wirkens des Anderen ist aus meiner Sicht die wichtigste Grundlage für ein gutes Miteinander. Und – hier haben wir den gesellschaftlichen Kontext – die Auseinandersetzung mit den Werten und der Wichtigkeit von Maßnahmen. Ein Beispiel: Finde ich als Ärztin, dass die Medizin im Mittelpunkt steht, dann sind meine Abstraktionsfähigkeiten bezüglich der Erfordernisse einer Pflegeleistung wahrscheinlich nicht so hoch. Aber – gäbe es Kliniken, wenn medizinische Leistung ohne Pflegeleistung möglich wäre? Alle Berufsgruppen müssen wir als gleich wichtig ansehen – ohne Wenn und Aber – dann gelingt professionelle Zusammenarbeit.

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